Dez 17

Der 18. Dezember

„Von wegen ruhige Zeit!“, schimpfte Martin innerlich. Heute schon zum zweiten Mal. Jemehr sich die Dezembertage dem Vierundzwanzigsten annäherten, umso größer wurde die Termindichte von Veranstaltungen unterschiedlichen Namens, die die folgenden Dinge gemeinsam hatten: Sie waren gut gemeint. Sie waren eigentlich dafür gedacht, um „am Ende des Jahres“ zusammen zu sitzen und sich „ganz in Ruhe“zu unterhalten. Und sie führten gerade durch ihre Ballung zum genauen Gegenteil. Besonders krass kulminierten die Termine regelmäßig um den 18. Dezember herum. Davor war man ja noch „so weit entfernt von Weihnachten“ und danach war ja schon „kurz vor Weihnachten“. Der 18. war also ideal – und damit der schlimmstmögliche Tag von allen.

Heute hatten er und seine Frau sich sogar aufteilen müssen. Sie war Nachmittags mit dem Großen zuerst zu einer „Santa Claus Modenschau“ in die Schule gegangen und anschließend zum „Xmas-Torwandschießen“ in den Sportverein. Er selbst war extra früher aus der Arbeit nach Hause gehetzt, um mit der Kleinen an einem Weihnachtskonzert in der Musikschule teilzunehmen, wo sie in einer dreistündigen Veranstaltung leider nur gefühlte fünf Minuten aufgetreten war. Ihm taten jetzt noch die Ohren weh von überdreht kreischenden Grundschülern, frenetisch klatschenden Helikopter-Eltern und schief getroffenen Geigensaiten.

Nach dem in aller gebotenen Kürze heruntergeschlungenen Abendessen hatte der Babysitter übernommen, damit seine Frau und er zu den jeweiligen Betriebsweihnachtsfeiern aufbrechen konnten. Von diesen Feiern war allgemein bekannt, dass eine Teilnahme erwartet wurde, um Verbundenheit mit dem Arbeitgeberzu demonstrieren. Zu erwarten war regelmäßig ein Programm aus ebenso langweiligerwie realitätsferner Rede des Vorgesetzten zum letzten Geschäftsjahr und anschließendem „Beisammensein“ auf zu eng gestellten Stühlen. Eifrige Beobachter dokumentierten bei dieser Gelegenheit jegliche Ausfälligkeiten akribisch. Diese bildeten dann die Grundlage für den Büroklatsch bis zum Sommerfest. Also alles in allem keine Veranstaltung, die jemand bei klarem Verstand freiwillig eine Woche vor Weihnachten gerne erleben möchte. „Schulkinder können wenigstens schwänzen. Und ich muss mir das hier antun.“, dachte er sich verbittert, während er den Griff zur Eingangstür ins Bürogebäude in die Hand nahm. Er hielt kurz inne und entschied sich – entgegen seiner sonstigen Art – spontan dafür, dem Abend eine unerwartete Richtung zu geben. „Muss leider schon wieder heim. Dringender Notfall zu Hause – entschuldigt mich bitte drinnen.“, fabulierte er zwei Kollegen zu, die sich an ihm vorbei durch die Tür drängten und machte sich auf in die laternenbeleuchtete Straße. Allerdings nicht auf den Weg nach Hause, sondern gen Stadtpark. An einer Imbissbude holte er sich einen Thermobecher „Glühwein to go“ und setzte sich auf dieerste Bank im Park, derer er ansichtig wurde. Erleichtert ließ er sich nieder, zog den Reißverschluss vollständig nach oben und die Kapuze so weit nach unten, dass er nur noch das dampfende Getränk vor sich sah. Er nahm etwas von dem Glühwein direkt über die Nase auf, gönnte sich dann einen tiefen Schluck und ließ das wohlig-warme Getränk in seinem Mund zirkulieren, bis er freudig seufzend die Augen schloss und in einer Weise im Moment verhaftet war, wie sie einem Zen Buddhisten gut zu Gesicht gestanden hätte. So verblieb er, in sich ruhend und erlebte die erholsamsten Minuten seit Beginn der Vorweihnachtszeit.

Die leise Anfrage einer vorübergehenden Frau, ob der Platz neben ihm noch frei sei, kam ihm daher eher ungelegen. Sein Refugium war in akuter Gefahr. Aber soweit, einem Mitmenschen den Platz auf der Parkbank ohne triftigen Grund vorzuenthalten, reichte sein Nonkonformismus nicht einmal heute. „Ja, ja. Bitte setzen Sie sich.“, sagte er also, wie er es von seinen Eltern beigebracht bekommen hatte und er schaffte es sogar, dabei kein Bedauern erkennen zu lassen.„Mensch, Martin – bist du das?“, fragte unvermittelt eine wohlbekannte Stimme neben ihm. Erschrocken zog er die Kapuze soweit zurück, dass er wieder freie Sicht hatte, und schaute in die Augen von Judith, seiner Frau. „Erwischt!“, sagte er schuldbewusst, „Ich bin es tatsächlich. Aber irgendwie hätte ich auch Lust, heute nichtIch zu sein“, fügte er kleinlaut hinzu. Dann schob er nach: „Und du, bist du auch geflohen?“. „Das trifft es ziemlich gut“, gab sie ihm Recht, „Mich hat einfach der Rappel gepackt und ich dachte mir, dass ich jetzt lieber alleine wäre, als auch nur eineMinute länger bei dieser Weihnachtsfeier mit Leuten zu sitzen, die ich als Kollegen sehr schätze, wo ich mich aber nie ganz entspannen kann.“ Er nickte wissend. „Was meintest du damit, dass du heute lieber nicht Du wärst?“, fragte sie gespannt. „Sollen wir einfach so tun, als wären wir zwei Fremde, die sich gerade auf einer Parkbank zufällig eine Woche vor Weihnachten treffen?“. Er setzte schon zu einer Antwort an, aber sie kam ihm zuvor: „Ist ein interessantes Experiment. Warum eigentlich nicht? Ich bin dabei.“, raunte sie ihm zu seiner Überraschung verschwörerisch zu. „Klingt gut!“, antwortete er mit einem Lächeln. Und wie um seiner Darstellung als Nicht-Martin etwas mehr Substanz zu verleihen, bot er ihr mit einem forschen „Möchten Sie auch einen Schluck?“ etwas von seinem Glühwein an, ehe er sich selbst noch einmal einen Schluck gönnte. „Nein. Mit Fremden teile ich mir keine Glühweinbecher!“, gab sie ernst zurück. Allerdings mit dem Schalk in den Augenwinkeln den er sehr gut kannte, aber in den letzten Wochen und Monaten bei ihr nur selten gesehen hatte. Mehrere Sekunden lang herrschte Schweigen, dann begann Martin zaghaft. „Und was … äh .. machen Sie so?“, sprach er Judith an. Und setzte sicherheitshalber noch ein „Beruflich, meine ich.“, hinterher. „Ich bin Mutter von zwei Kindern kurz vor der Pubertät und arbeite in Teilzeit in einem Bürojob“, gab sie betont sachlich zu Protokoll.„Klingt wie das, was sich viele junge Mädchen für die Zeit, wenn sie mal groß sind wünschen. Aber bei Ihnen klingt es eher frustriert.“, forderte er sie heraus. „Ja und ja.Eigentlich ist es das, was ich gerne möchte, aber im Moment ist es einfach ziemlich viel. Wobei ‚im Moment‘ so die letzten fünf Jahre beschreibt, in denen ich diesen Spagat zwischen Haushalt und Buchhaltung schon mache. Man ist auch auf der Arbeit nicht so integriert, wie vor den Kindern. Auf die Teilzeitkräfte schauen manche Kollegen schon etwas spöttisch herab.“, gab sie zu. Er nickte wissend. „Und es ist ja auch nicht so, dass zu Hause lauter Wertschätzung auf einen herabprasselt.“, erweiterte sie ihre Aussage. „Und ihr Ehemann? Ich nehme an, sie sind verheiratet. Ister keine ausreichende Unterstützung?“, bohrte er nach. „Er bemüht sich wirklich.“, bekräftigte sie, „Echt. Er arbeitet Vollzeit und hat einen guten Job, der ihn fordert. Trotzdem gibt er am Wochenende und nach Feierabend alles.“. Martin fühlte sich, als hätte er noch einen Schluck von dem Glühwein genommen. „Die Hauptverantwortung habe aber trotzdem ich und trage auch die Hauptlast. Wenn eines der Kinder krank 2
ist, muss fast immer ich auf der Arbeit absagen. An den täglichen Hausarbeiten beteiligt er sich so gut wie gar nicht, obwohl er natürlich ‚voll für die Gleichberechtigung‘ ist. Das ist schon irgendwie frustrierend.“. Er schluckte. In ihren Augen sah er, dass es ihr Ernst war. „Das … äh … wusste ich nicht, dass Ihnen das so nahe geht.“, hauchte er. „Wie denn auch – sie kennen mich ja erst seit 10 Minuten!“, rief sie ihm ins Gedächtnis. „Haben Sie eine Idee, was ich meinem Mann sagen könnte, damit er sich mehr engagiert?“, versuchte sie das Gespräch in eine konstruktive Richtung zu lenken. Es war ihm anzusehen, dass sein Gehirn auf Hochtouren arbeitete, während er eine ganze Weile lang keinen Laut von sich gab. „Ich denke, es würde ihrem Mann helfen, wenn Sie Zuständigkeiten für bestimmte Bereiche festlegen und diese ab und zu tauschen. So könnten Sie flexibel auf die jeweilige aktuelle Arbeitsbelastung reagieren und wenn jeder seine Bereiche hat, die er in eigener Verantwortung ausfüllt, dann gibt es wenig Diskussionen, wer sich jetzt um eine Aufgabe kümmern muss. Das entlastet vom Verwaltungsoverhead und führt zu mehr Effizienz bei gleichzeitig erhöhter Zufriedenheit.“, schlug er vor. Dabei bemerke er selbst, dass er gegen Ende in einen leichten Business Consultant Singsangverfallen war und schaute ertappt nach unten. Sie sah ihn prüfend an, ob er das ernst meinte, und schwieg ein paar Sekunden. „Klingt wie etwas, was ich ihm einmal vorschlagen könnte.“, war Ihre Antwort. „Und es klingt so, als würden Sie sich beruflich mit solchen Themen beschäftigen“, setzte sie nach. „Na ja, ich arbeite in einem mittelständischen Unternehmen im mittleren Management und ab und zu tauchen da ähnliche Überlegungen auf. Nur dass die Mitarbeiter dort meistens nicht sodirekt aussprechen, was eigentlich Sache ist und man eigentlich immer nur zwischen der Geschäftsführung und den Mitarbeitern vermitteln muss, weil beide mit einem unzufrieden sind.“, setzt er an. Sie sah ihn auffordernd an, da ihr die Stille vielversprechend und eher wie eine Pause als das Ende der Geschichte erschien. Einige Zeit später fuhr er fort: „Tja, und jetzt soll eine Abteilung aufgelöst werden soll.Es werden mehrere Leute entlassen werden müssen. Darunter auch Kollegen, mit denen ich jahrelang ein Büro geteilt habe. Und ich werde derjenige sein, der ihnen dasdirekt nach Weihnachten mitteilen muss. Um ihnen nicht die Feiertage zu vermiesen.“.Er holte kurz Luft, schluckte und ergänzte leise: „Dafür habe ich selbst jetzt natürlich ein besonders tolles Weihnachtsfest und kann den Leuten kaum in die Augen schauen.Ich weiß aber auch, dass wenn ich es nicht tue, es jemand tun wird, der noch wenigereinfühlsam mit den Leuten sprechen wird und das möchte ich ihnen erst recht nicht antun“, schloss er trotzig.
Sie kickte mit dem Fuß ein paar Kieselsteine in den Schneematsch und schaute dabei ihre Stiefel an. Dann sprach sie leise zu Ihren Füßen: „Weiß Ihre Frau um diese besondere Situation?“. „Ehrlich gesagt: Nein.“ „Warum haben Sie ihr bisher noch nichts davon mitgeteilt? So etwas interessiert sie doch bestimmt, oder?“ „Da bin ich mir manchmal nicht sicher. Sie hat ja selbst so viel zu tun und da möchte ich ihr das eigentlich nicht unbedingt auch noch zumuten.“. „Es scheint, Ihnen aber auch nicht gut zu tun, das für sich zu behalten.“. „Ja, aber gerade jetzt, so kurz vor Weihnachten, finde ich auch keine gute Gelegenheit, um überhaupt mal in Ruhe mit ihr zu sprechen.“ „Verstehe. Geht mir mit meinem Mann ähnlich. Um den 18.12. jagt ein Termin den anderen.“. Beide sahen sich gleichzeitig an und öffneten ihre Münder, um etwas zu sagen. Überrascht schlossen sie sie wieder, weil sie bemerkten, dass sie 3
den letzten Satz fast synchron beendet hatten. Dann grinsten sie verschmitzt. Für ein paar Sekunden konnte man einige vereinzelte Schneeflocken mit lautem Getöse auf der Parkbank aufprallen hören.

„Hey, was sitzt ihr beiden denn hier herum?“, unterbrach sie eine leicht lallende Stimme. Sie gehörte zu einem etwa 20-jährigen Mädchen mit wallendem weißen Gewand, ebensolchen blonden Locken und einer schief auf dem Kopf sitzenden Krone, das sich ihnen dezent wankend näherte. Es war unklar, ob es sich um den kläglichen Rest eines Junggesellinnen-Abschieds oder um eine Christkind-Darstellerin handelte. „Hier geht es gleich richtig los mit Schnee und allem.“, fuhr die Erscheinung fort. „Macht lieber, dass ihr zwei Hübschen noch ins Trockene kommt!“, gab sie im Vorbeigehen noch zum Besten. Bereits im Gehen begriffen, drehte sie sich erneut gefährlich wippend zu Ihnen um, um Ihnen zum Abschied ein feuchtfröhliches „FrohesFest!“ entgegenzuschmettern.

„Ihre Argumentation hat etwas“, sagte Martin und fragte förmlich: „Dürfte ich Sie nach Hause begleiten?“. „Nein Danke, mein Mann wartet da vorne an der Straßeneckeauf mich.“, erwiderte sie zwinkernd. Er verstand nicht gleich, was sie meinte und schaute sie fragend an, woraufhin sie mit Ihrem Kopf in Richtung der nächstgelegenenHäuserzeile nickte. Er benötigte einen Moment, dann trabte er zum angezeigten Ort. Als er dort angekommen war, kam sie betont langsam schlendernd auf ihn zu. Er liebte es, ihr dabei zuzusehen. Es erinnerte ihn vage an ihre Hochzeit. Nur eben 15 Jahre später, ohne Kleid, Kirche und 300 geladene Gäste. Sie kam auf ihn zu und er genoss ihren Anblick still, so wie auch sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit erfreute. „Martin! Schön, dich zu sehen!“, rief sie. Sie umarmten sich und küssten sich freudig. „Könnte ich etwas von diesem verführerisch duftenden Glühwein abhaben?“, fragte sie. „Natürlich. Tut gut bei dieser Kälte.“, antwortete er und führte ihr den Becher an die Lippen. Sie genehmigte sich einen tiefen Schluck der warmen, würzigen Flüssigkeit. Dann machten sie sich eingehakt auf den Heimweg. Unvermittelt fing Judith an „Stille Nacht, Heilige Nacht“ zu summen. „So ruhig und friedlich stelle ich mir die Zeit vor Weihnachten vor“, dachte Martin und stimmte mit ein. Leise vor sich hin intonierend näherten sie sich ihrem Zuhause, dampfenden Atem voller Glühweinmoleküle vor sich her führend. „Das ist der beste 18. Dezember seit vielen Jahren. Jetzt kann Weihnachten kommen.“, sinnierte Martin.

Autor: Daniel de West
Bildquelle: https://pixabay.com/ Image from: MabelAmber4